Die Welt
02.11.2020
Autor: Daniel-Dylan Böhmer
Erst vor Kurzem haben die Vereinigten Arabischen Emirate
Israel anerkannt. Auch, weil sie die Toleranz im Nahen Osten fördern wollten,
sagt Außenstaatsminister Anwar Gargash.
Wie erlebt ein Araber das Ringen um westliche Werte? Solche Fragen sind Anwar Gargash ein bisschen zu einfach. "Letztlich sind wir alle doch alle ein Amalgam aus verschiedenen Kulturen und Lebenserfahrungen", sagt der Mann, der in traditionellem arabischen Gewand für das Videointerview Platz genommen hat. Dabei blitzen seine Augen amüsiert hinter der eckigen schwarzen Brille, die auch zu einem Berliner Hipster passen würde.
Er erinnert sich noch gut daran, wie er 1979 mit seinen
Kommilitonen in Washington vor dem Fernseher in der Universitätsbibliothek saß,
um die neuesten Berichte über die US-Diplomaten zu verfolgen, die Ajatollah
Chomeinis islamistische Revolutionäre in Teheran als Geiseln genommen hatten.
Er erinnert sich an seine Doktorarbeit in Cambridge und an den deutschen Freund
seiner Familie, der im Ausland immer behauptete, er sei Däne.
"Und indische und chinesische Einflüsse gab es bei uns
in Dubai auch", sagt Gargash. "In einer Handelsstadt wächst man immer
mit vielen Einflüssen auf. Aber eigentlich sind alle Menschen eine Mischung aus
Verschiedenem." Das heißt aber nicht, dass Anwar Gargash keine Meinung
hat. Und seine Meinung zählt etwas, denn Gargash ist der Außenstaatsminister
der Vereinigten Arabischen Emirate, einem Staat mit einer Million Bürger und
neun Millionen Einwohnern, der unübersehbar Weltpolitik macht.
Als die Emirate im August bekannt gaben, dass sie
diplomatische Beziehungen mit Israel aufnehmen würden, war das in mehrfacher
Hinsicht eine Sensation. Nur zwei arabische Staaten hatten Israel zuvor
anerkannt, Ägypten im Jahr 1979 und Jordanien 1994. Damit brachen die Emirate
die von der arabischen Liga erklärte Regel, dass es keine normalen Beziehungen
zu Israel geben könne, ehe sich das Land aus den besetzten Gebieten
zurückziehen würde und ein Palästinenserstaat gegründet sei.
Das Beispiel der Emirate kann Schule machen in der
arabischen Welt. "Wir wollten diesen Kreislauf der Unentschiedenheit
durchbrechen", sagt Gargash. "Nicht mit Israel zu reden hat nun
einmal nichts genützt." Im Rahmen des Abkommens habe Israel schließlich
zugestimmt, Annexionen von Teilen der Palästinensergebiete auszusetzen. Das
gemeinsame Ziel habe man nicht verraten. "Wir teilen immer noch die
kollektive arabische Haltung, die eine Zweistaatenlösung und einen
palästinensischen Staat in den Grenzen von vor 1967 verlangt", sagt
Gargash.
Der Frieden mit Israel gebe den Emiraten sogar noch bessere
Möglichkeiten, etwas für die Palästinenser zu tun. "Wir können besser auf
die Israelis einwirken, wenn wir mit ihnen reden, als wenn wir nicht mit ihnen
reden." Der Friedensschluss der Emirate bewege auch die Palästinenser
dazu, über eine neue Strategie nachzudenken. Die Unzufriedenheit mit der
bisherigen Haltung der Palästinenser ist Gargash deutlich anzumerken. Als erste
Gerüchte über einen Friedensplan unter der Schirmherrschaft der Regierung von
US-Präsident Donald Trump aufkamen, hätten die Palästinenser sehr schnell
beschlossen, nicht darüber zu verhandeln, sagt Gargash.
Die Emirate, seit Jahrzehnten einer der wichtigsten
finanziellen Förderer der Palästinenser, hätten ihnen zu mehr Offenheit
geraten. Wenn man nicht im Raum sei, dann höre einem auch niemand zu. Aber das
habe nicht geholfen. "Indem wir Israel nicht anerkannt haben, haben wir
der Palästinensischen Autonomiebehörde während der letzten 25 Jahre einen
politischen Hebel in die Hand gegeben. Aber die Palästinenser haben nichts
damit gemacht. Also holen wir uns den Hebel zurück und versuchen, es besser zu
machen."
Aber es gebe noch grundsätzlichere Erwägungen hinter dem
Abkommen mit Israel, so Gargash. "Wir haben die Sache auch unter dem
Aspekt der Toleranz betrachtet. Es gibt dieses islamistische Narrativ, das
andere ausschließt und überall in der Region Konflikte erzeugt, und das ab 1979
entstanden ist - mit dem Krieg in Afghanistan, der Besetzung der Großen Moschee
von Mekka durch Fundamentalisten und durch die Revolution im Iran." Hier
ist Gargash wieder bei seiner eigenen Lebenserfahrung angekommen und wie sie
sich an der heutigen Realität bricht. "Politik prägt, wie wir denken und
was wir glauben. Diesen Kreislauf wollten wir durchbrechen."
Man kann sich durchaus fragen, ob es allein dieser
demonstrative Idealismus ist, der die Politik der Emirate treibt, oder eher
bestimmte Gewinnerwartungen. Sicher ist, dass sie mit dem Zugehen auf Israel
auch etwas riskiert haben. Mindestens den Zorn vieler Araber. Das tut auch
Gargash, wenn er zum aktuellen Streit um Terror, Meinungsfreiheit und Islam
Stellung nimmt, der sich seit den Anschlägen in Frankreich zwischen Europa und
der muslimischen Welt entsponnen hat. "Als Muslim fühle ich mich beleidigt
durch bestimmte Karikaturen", sagt Gargash. "Aber als denkender
Mensch sehe ich die Politik, die rund um dieses Thema betrieben wird. Mit
seinen Attacken gegen Frankreich manipuliert Erdogan ein religiöses Thema für
politische Zwecke." Die Worte des französischen Präsidenten seien bewusst
aus dem Kontext gerissen worden, sagt Gargash.
"Man sollte sich anhören, was Macron in seiner Rede
wirklich gesagt hat. Er will nicht, dass Muslime im Westen gettoisiert werden
und damit hat er recht. Sie sollten besser in die Gesellschaft integriert
werden. Der französische Staat hat das Recht, nach Wegen zu suchen, das zu
erreichen. Einen Platz für Muslime in Frankreichs Bürgergesellschaft zu finden.
Und Mittel gegen Abschottung und Militanz." Diese Themen sollten nicht der
extremen Rechten überlassen werden, warnt Gargash, weder jener im Westen noch
der innerhalb der muslimischen Welt. "Erdogan will der Anführer des
sunnitischen Islam werden. Darum inszeniert er das so. Aber in Wahrheit ist das
ein politisches Projekt, kein theologisches." Das eigentliche Ziel des
türkischen Präsidenten sei es, den Einfluss seines Landes in der muslimischen
Welt auszudehnen, der schon heute vom Golf bis zum westlichen Mittelmeer
reicht.
Gargash zählt die Schauplätze auf, an denen die Türkei
derzeit aktiv ist: Tausende türkische Soldaten gehen im Nordirak gegen die
Kurdenmiliz PKK vor, im Norden des Nachbarlands Syrien stehen ebenfalls
türkische Kräfte zusammen mit verbündeten Milizen im Feld, in Libyen sichern
türkische Waffen und Türkei-treue Milizen aus Syrien das Überleben der
Nationalen Einheitsregierung von Fayez al-Sarradsch. "Und überall
expandiert die Türkei zulasten der Araber", sagt Gargash. "Darum
haben wir etwas dagegen. Wenn die ihr Imperium wieder errichten wollen -
bitteschön. Aber nicht bei uns."
Auch Europa müsse sich der Herausforderung durch die Türkei
stellen. "Macron ist einer der wenigen europäischen Politiker, die sich
offen gegen die regionale Expansion der Türkei stellen", sagt Gargash.
"Europa braucht eine geeinte Haltung der Türkei gegenüber. Wo Erdogan
Lücken oder Schwächen sieht, nutzt er das für seinen Machtgewinn aus. Erst wenn
man ihm rote Linien zieht, wird er verhandlungsbereit."
Erdogans ideologisches Projekt hänge untrennbar mit dieser
Expansion zusammen. Es sei ein islamistisches Projekt, meint Gargash.
"International verbreitet Erdogan die Ideologie der Muslimbrüder. Sie ist
zum Teil seine eigene Ideologie, zum Teil aber auch ein Instrument zum
Machtgewinn. Das lässt sich nicht trennen." Die Muslimbrüder, der älteste
internationale islamistische Verband der Welt, wollen eine ultrakonservativ
religiös geprägte Gesellschaft mit politischen Mitteln errichten. Doch immer
wieder gehen sie auch gewalttätig vor. Im sogenannten Arabischen Frühling, der
Serie von Aufständen gegen die nahöstlichen Diktaturen ab 2011, wurden die
Muslimbrüder in vielen Ländern zur zentralen Kraft.
Der internationale Kampf gegen die Muslimbruderschaft ist
ein Kernstück der emiratischen Außenpolitik. Weil die frommen Brüder die
monarchische Herrschaftsordnung bedrohen, sagen einige. Die Emirate selbst
verweisen dagegen auf ihre für arabische Verhältnisse ausgeprägt liberale und
pluralistische Gesellschaft, deren Werte es gegen die Islamisten zu verteidigen
gelte. Auf die Koexistenz von Kulturen, die prinzipiell auch andernorts im
Nahen Osten über Jahrhunderte funktionierte. Kritiker der Emirate sehen darin
jedoch eher ein Verkaufsargument für eine ebenfalls ziemlich expansive Politik.
Was sagt Gargash zu solchen Vorwürfen?
"Ja, wir sind aktiv in der internationalen
Politik", entgegnet der Außenstaatsminister. "Aber Sie sollten
verstehen, warum wir diese Rolle anstreben. Die Weltpolitik erlebt gerade einen
tiefgreifenden Wandel. Die Amerikaner werden nicht mehr kommen, um zu retten.
Wir im Nahen Osten müssen selbst Verantwortung übernehmen." Dabei hätten
die Emirate nie auf eigene Faust gehandelt, betont Gargash, sondern etwa als
Partner der Nato in Afghanistan, auf dem Balkan und in Libyen, als Partner
einer internationalen Koalition gegen die Terrormiliz Islamischer Staat und im
Jemen an der Seite Saudi-Arabiens und anderer Staaten.
Diese Koalition verteidigt seit 2015 Jemens international
anerkannte Regierung gegen die vom Iran gestützten Huthi-Rebellen, doch die
Zivilbevölkerung leidet schrecklich unter den Kämpfen. Die Vereinten Nationen
sprechen von der größten humanitären Katastrophe unserer Zeit. "Im Jemen
war unsere Rolle nicht einfach", sagt Gargash. "Wir sind jetzt raus
dort. Es war ein schwerer Kampf und wir wurden stark kritisiert." Die
Auseinandersetzung mit dem Iran jedoch, sie wird weitergehen. Ihre Sorge
angesichts des iranischen Atomprogramms und der Aktivitäten iranischer Milizen
in der Region verbindet die Emirate und andere Golfaraber mit Israel. Die Förderung
der Zusammenarbeit unter Amerikas Alliierten in der Region gehörte auch zu
Donald Trumps Strategie maximalen Drucks auf den Iran.
Nachdem Trump aus dem Atomabkommen mit Teheran ausgestiegen
war und Wirtschaftssanktionen wieder eingesetzt hatte, begann eine
Eskalationsspirale, die auch zu Angriffen am Golf führte. Doch wenn man Gargash
fragt, dann scheint es fraglich, ob maximaler Druck für die Emirate noch der
richtige Weg ist. "Diese Probleme müssen politisch und durch Verhandlungen
gelöst werden", sagt Gargash. "Nach der Covid-Krise werden wir alle
ärmer und erschöpfter sein. Es wäre Wahnsinn, dann eine Konfrontation zu
riskieren. Wir brauchen Deeskalation und eine politische Handlungsebene. So
haben wir es immer gesehen." Der amerikanische Präsidentschaftskandidat
Joe Biden hat angekündigt, im Fall eines Wahlsiegs wieder dem Iran-Atomabkommen
JCPOA beizutreten, das in seiner Amtszeit als Vizepräsident ausgehandelt wurde.
"Es wäre falsch, das JCPOA einfach
wiederzubeleben", sagt Gargash. "Was wir brauchen, ist ein JCPOA++,
das auch Irans Raketenprogramm beschränkt und seine Förderung von Milizen in
der gesamten Region beendet." Und diesmal müssten die Golfaraber auch Teil
des Abkommens sein. "Wie sollen wir etwas unterstützen, das wir nicht mit
aushandeln konnten?", fragt der Außenstaatsminister. Es sei klüger, die
Emirate als Partner zu haben. Das scheint die Botschaft zu sein, auch hier.